1. Gier, Kerstin Rubinrot 

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stuhl fallen. »Ich bin nicht bereit, mir diesen Unsinn länger
anzuhören. Sie ist ja noch nicht mal am richtigen Tag gebo­
ren. Sie war außerdem eine Frühgeburt!« Das mit der Frühge­
burt war ihr offenbar besonders wichtig.
Mrs Jenkins flüsterte: »Soll ich Ihnen eine Tasse Tee brin­
gen, Mrs Montrose?«
»Ach, bleiben Sie mir mit Ihrem Tee vom Leib«, fauchte
Tante Glenda.
»Möchte sonst jemand Tee?«
»Nein danke«, sagte ich.
Mr George fixierte mich unterdessen wieder mit seinen
blassblauen Augen. »Gwendolyn. Du bist also bereits in der
Zeit gesprungen?«
Ich nickte.
»Und wohin, wenn ich fragen darf?« »Dahin, wo ich gerade
stand«, sagte ich.
Mr George lächelte. »Ich meinte, in welche Zeit du ge­
sprungen bist.«
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»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte ich pampig.
»Es stand nirgendwo die Jahreszahl angeschlagen. Und sagen
wollte es mir auch niemand. Hören Sie! Ich will das nicht! Ich
will, dass es wieder aufhört. Können Sie nicht machen, dass es
wieder aufhört?«
Mr George antwortete mir nicht. »Gwendolyn kam zwei
Monate vor ihrem errechneten Geburtstermin zur Welt«, sagte
er zu niemand Bestimmtem. »Am achten Oktober. Ich habe
die Geburtsurkunde und den Eintrag beim Standesamt per­
sönlich überprüft. Und das Kind habe ich auch überprüft.«
Ich überlegte, was man bei einem Kind wohl überprüfen
könnte. Ob es echt war?
»Sie wurde bereits am Abend des siebten Oktobers gebo­
ren«, sagte Mum und jetzt zitterte ihre Stimme etwas. »Wir
haben die Hebamme bestochen, die Geburtszeit auf dem Ge­
burtsschein um einige Stunden nach vorn zu verlegen.«
»Aber warum?« Mr George schien das genauso wenig zu
verstehen wie ich.
»Weil... nach allem, was mit Lucy geschehen ist, wollte ich
meinem Kind diese Strapazen ersparen. Ich wollte sie beschüt­
zen«, sagte Mum. »Und ich hatte gehofft, dass sie vielleicht
das Gen gar nicht geerbt hätte, sondern nur zufällig am selben
Tag geboren wurde wie die eigentliche Gen-Trägerin. Schließ­
lich hatte Glenda ja Charlotte bekommen, auf der bereits alle
Hoffnungen lagen...«
»Ach, lüg doch nicht!«, rief Tante Glenda. »Das war doch
alles Absicht! Dein Baby hätte erst im Dezember geboren wer­
den sollen, aber du hast die Schwangerschaft manipuliert und
eine Frühgeburt riskiert, nur damit du am selben Tag entbin­
den konntest wie ich. Aber das hat nicht geklappt! Deine
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Tochter wurde einen Tag später geboren. Ich habe ja so ge­
lacht, als ich das gehört habe.«
»Es müsste ja einigermaßen leicht sein, das zu beweisen«,
sagte Mr George.
»Ich habe den Namen der Hebamme vergessen«, sagte Mum
schnell. »Ich weiß nur noch, dass sie Dawn mit Vornamen
hieß. Es ist auch vollkommen unwichtig.«
»Ha«, sagte Tante Glenda. »Das würde ich an deiner Stelle
auch sagen.«
»Wir haben sicher Name und Adresse der Hebamme in un­
seren Akten.« Mr George drehte sich zu Mrs Jenkins um. »Es
ist wichtig, sie ausfindig zu machen.«
»Das ist unnötig«, sagte Mum. »Sie können diese arme Frau
in Ruhe lassen. Sie hat lediglich ein bisschen Geld von uns
bekommen.«
»Wir wollen ihr nur ein paar Fragen stellen«, sagte Mr
George. »Bitte, Mrs Jenkins, finden Sie heraus, wo sie heute
lebt.«
»Ich bin schon unterwegs«, sagte Mrs Jenkins und ver­
schwand wieder durch die Nebentür.
»Wer weiß sonst noch davon?«, fragte Mr George.
»Nur mein Mann wusste davon«, sagte Mum und nun
schwang eine Mischung aus Trotz und Triumph in ihrem
Tonfall mit. »Und den können Sie nicht mehr ins Kreuzver­
hör nehmen. Leider ist er tot.«
»Ich weiß«, sagte Mr George. »Leukämie, nicht wahr? Sehr
tragisch.« Er begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Wann
hat es begonnen, sagen Sie?«
»Gestern«, sagte ich.
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»Dreimal in den letzten zwanzig Stunden«, sagte Mum.
»Ich habe Angst um sie.«
»Dreimal schon!« Mr George blieb stehen. »Und wann war
das letzte Mal?«
»Vor einer Stunde etwa«, sagte ich. »Glaube ich.« Seit die
Ereignisse angefangen hatten, sich zu überschlagen, hatte ich
jegliches Gefühl für Zeit verloren.
»Dann hätten wir ein bisschen Luft, um alles vorzuberei­
ten.«
»Das können Sie unmöglich glauben«, sagte Tante Glenda.
»Mr George! Sie kennen Charlotte. Und jetzt sehen Sie sich
dieses Mädchen hier an und vergleichen Sie sie mit meiner
Charlotte. Glauben Sie allen Ernstes, vor Ihnen steht die
Nummer zwölf? Rubinrot begabt mit der Magie des Raben,
schließt G-Dur den Kreis, den zwölf gebildet haben. Glauben
Sie das?«
»Nun, es besteht immerhin die Möglichkeit«, sagte Mr
George. »Auch wenn mir Ihre Motive mehr als fragwürdig er­
scheinen, Mrs Shepherd.«
»Das ist Ihr Problem«, sagte Mum kühl.
»Wenn Sie Ihr Kind wirklich beschützen wollten, dann hät­
ten Sie es nicht so viele Jahre in Unwissenheit lassen dürfen.
Ohne jede Vorbereitung in der Zeit zu springen, ist sehr ge­
fährlich.«
Mum biss sich auf die Lippen. »Ich hatte eben gehofft, dass
Charlotte diejenige wäre . . .«
»Aber das ist sie ja auch!«, rief Tante Glenda. »Seit zwei Ta­
gen hat sie eindeutige Symptome. Es kann jeden Augenblick
passieren. Vielleicht passiert es gerade jetzt, während wir hier
unsere Zeit damit vertrödeln, den vollkommen hanebüchenen
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Geschichten meiner eifersüchtigen kleinen Schwester zu lau­
schen.«
»Vielleicht schaltest du zur Abwechslung einmal dein Ge­
hirn ein, Glenda«, sagte meine Mum. Plötzlich klang sie mü­
de. »Warum sollten wir denn so etwas erfinden? Wer außer dir
würde denn seiner Tochter so etwas freiwillig antun?«
»Ich bestehe darauf, dass ...«Tante Glenda ließ in der Luft
hängen, worauf sie bestand. »Das wird sich alles als böswilli­
ger Schwindel herausstellen. Es gab schon einmal Sabotage
und Sie wissen ja, wohin das geführt hat, Mr George. Und
jetzt, so kurz vor dem Ziel, können wir uns wirklich keine
Patzer mehr erlauben.«
»Ich denke, das haben nicht wir zu entscheiden«, sagte Mr
George. »Folgen Sie mir bitte, Mrs Shepherd. Und du auch,
Gwendolyn.« Mit einem kleinen Lachen setzte er hinzu: »Kei­
ne Angst, die esoterikbesessenen Pseudowissenschaftler und
fanatischen Geheimniskrämer beißen schon nicht.«
Verfress'ne Zeit! Schleif Löwenkrallen zahm,
die Erde lass verschlingen ihre Brut,
zieh scharfe Zähne aus des Tigers Schlund,
den Phönix brenn in seinem eig'nen Blut.
William Shakespeare, Sonett XIX
7.
Wir wurden eine Treppe hinauf und durch einen langen
Gang geführt, der mehrmals um fünfundvierzig Grad ab­
knickte und manchmal ein paar Stufen aufwärts oder abwärts
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verlief. Der Ausblick aus den wenigen Fenstern, an denen wir
vorbeikamen, war jedes Mal ein anderer: Mal schaute man in
einen großen Garten, mal gegen ein anderes Gebäude oder in
einen kleinen Hinterhof. Es war ein endlos langer Weg, ab­
wechselnd über Parkett und steinerne Mosaikfußböden, vor­
bei an vielen geschlossenen Türen, Stühlen, die in endlosen
Reihen an den Wänden aufgestellt waren, gerahmten Ölge­
mälden, Schränken voller ledergebundener Bücher und Por­
zellanfiguren, Statuen und Ritterrüstungen. Es sah aus wie in
einem Museum.
Tante Glenda warf Mum die ganze Zeit über giftige Blicke
zu. Mum ihrerseits ignorierte ihre Schwester, so gut es ging.
Sie war blass und sah extrem angespannt aus. Ich war drauf
und dran, nach ihrer Hand zu greifen, aber dann hätte Tante
Glenda gemerkt, wie viel Angst ich hatte, und das war das
Letzte, was ich wollte.
Wir konnten uns unmöglich noch im selben Haus befin­
den, meinem Gefühl nach waren wir mindestens durch drei
weitere Häuser gewandert, als Mr George endlich stehen blieb
und an eine Tür klopfte.
Der Saal, in den wir traten, war vollständig mit dunklem
Holz getäfelt, so ähnlich wie bei uns das Esszimmer. Auch die
Decken waren aus dunklem Holz und alles war beinahe lü­
ckenlos mit kunstvollen, zum Teil farbig hervorgehobenen
Schnitzereien versehen. Die Möbel waren ebenfalls dunkel
und massiv. Es hätte düster und unheimlich wirken müssen, [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]

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